GMT ist mittlerweile seit langer Zeit die Nummer eins.
Auch wer nicht - oder nur mit Vorbehalten - an Bestenlisten und Ähnliches "glaubt", muss irgendwann aufmerksam werden, wenn ein Spiel über Monate und Jahre auf Platz eins des "Boardgame Geek", der umfassendsten und aktivsten Brettspieleseite, steht, die im Netz existiert. "Twilight Struggle" (TS) vom amerikanischen Verlag GMT heisst der Leader, "Gleichgewicht des Schreckens" lautet seine weit weniger elegante Übersetzung, und zum Thema hat das Spiel den Kalten Krieg zwischen den USA und der UdSSR, der durchaus auch mal punktuell an Kälte verlieren konnte...
Zugegeben, das Publikum des "Geeks" besteht vorwiegend aus solchen und tendiert somit zu deutlich komplexeren Spielen als etwa die Jury "Spiel des Jahres" in Deutschland. Aber wer sich mit Spielen und den diversen "Strömungen" an modernen Spielemechanismen auseinandersetzt, kommt an den "card driven games", zu denen TS gehört - ja, diesen Mechanismus gewissermassen perfektioniert hat - nicht wirklich vorbei.
Da TS einerseits derart erfolgreich ist/war, andererseits nun aber doch ein paar Jährchen auf dem Buckel hat, ist ein Nachfolger die einzig richtige Entscheidung. Würde der wohl die Spannung des Originals erreichen? Konnten die Autoren einen ähnlichen Geniestreich wiederholen, ohne in die Falle erhöhter Komplexität (und damit geringerer Zugänglichkeit) zu tappen?
Wir haben uns an dem Nachfolger versucht... Er trägt den Namen
1989 - DAWN of FREEDOM
Das Spiel behandelt das Schicksalsjahr 1989, genauer den Zerfall des ehemaligen Ostblocks, und schickt damit einen "Demokraten" und einen "Kommunisten" gegeneinander in den Ring. Ziel des Ersten ist es, möglichst rasch aus den vorhandenen Freiheitsbestrebungen Kapital (!) zu schlagen und der Demokratie im Ostblock zum Durchbruch zu verhelfen. Dem "Kommunisten" andererseits stehen diverse Mittel und Wege offen, dies zu verhindern... oder doch zumindest so lange wie möglich hinauszuzögern und noch ein paar Wochen länger an der Macht zu bleiben.
Das Spiel kommt in der GMT-typischen (hohen) Qualität daher.
Das Brett ist riesig und auf extrem stabilen Karton aufgezogen, die
Karten qulitativ einwandfrei, so dass wir uns nicht länger mit
Nebensächlichkeiten aufhalten.
Spielmechanisch orientiert sich 1989 eng an TS, allerdings mit der richtigen Dosis an Veränderungen, so dass nicht nur das neue Szenario für Abwechslung sorgt, sondern auch durch neue und durchaus sinnvolle Regelelemente ein tatsächlich eigenes Spiel entstanden ist.
Das Spielfeld stellt die ehemaligen Ostblockstaaten DDR, Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien dar. Die relevanten (spielbaren) Felder sind dabei wichtige Städte der Nationen (in TS waren es Länder innerhalb von Kontinenten). Neu ist, dass nicht nur geografische Merkmale "spielbar" sind, sondern es werden auch innenpolitische Mächte dargestellt: So gibt es eigene Felder für Universitäten, Intellektuelle oder die Kirchen. Wer etwa eine Universität kontrolliert, hat damit auch Zugang zu den Intellektuellen des Landes. Jedes Feld kann darüber hinaus "Arbeitern", "Bauern", "Bürokraten", "Minderheiten" und anderen Gruppierungen zugeordnet sein.
"Card driven" bedeutet, dass sämtliche Aktionen über Karten durchgeführt werden, wobei jede Karte mehrere Einsatzmöglichkeiten hat: Sie kann für "Operationen" verwendet werden (2 verschiedene sind möglich), oder als "Ereignis" gespielt werden, das sich jeweils auf ein historisches Geschehen bezieht. Der Clou: Die meisten Ereignisse sind entweder positiv für den Demokraten oder den Kommunisten (es gibt auch wenige "neutrale") und damit einer dieser beiden Fraktionen zugeordnet. Ist der Demokrat in seinem Zug gezwungen, eine Karte mit einem kommunistischen "Ereignis" als eigene Operation zu spielen, so tritt das für ihn negative "kommunistische" Ereignis automatisch und zusätzlich ein - und natürlich auch umgekehrt. Beide Spieler schwanken also dauernd zwischen Offensive und Schadensbegrenzung.
Schauen wir einfach mal in das laufende Spiel....
In diesem habe ich die Rolle des Kommunisten, meine ansonsten wunderbare, aber in diesem Fall völlig fehlgeleitete Frau hat jene der Demokraten übernommen...
Hier hatte die Demokratin gerade die Karte "Eco-Glasnost" gespielt, welche es
ihr erlaubte, genügend Einfluss in der bulgarischen Stadt Ruse zu erlangen, um diese zu kontrollieren (Die
Stabilität der Stadt Ruse beträgt 3. Da die Demokratin drei
Einflusspunkte mehr in der Stadt hat als der Kommunist (4 gg. 1), haben
die demokratischen Kräfte dort das Szepter übernommen (sic!!!)). Zusätzlich wird es den Kommunisten durch das Ereignis erschwert, in
Zukunft in Ruse wieder an Einfluss zu gewinnen.
Nun stellt Bulgarien zumindest Angangs des Jahres allerdings eher einen
Nebenschauplatz dar. Viel wichtiger ist, was soeben weiter nördlich
geschah...
Nur kurz nach der Legalisierung seiner Gewerkschaft Solidarnosc macht Lech Walesa seinen Einfluss geltend und eine Demokratisierungswelle überrollt Polen. Immerhin ist die Universität noch in kommunistischer Hand, das Bildungssystem von diesem neumodischen Kram also noch nicht infiltriert. Besteht noch Hoffnung für den Kommunisten?
Sobald eine "Scoring" Karte für ein Land ausgespielt wird, folgt ein "Spiel im Spiel" - in Form eines kurzen Kartenduells (mittels Extrakarten). Je nachdem, wieviele "Lokalitäten" man innerhalb einer Nation kontrolliert, erhält jeder Spieler mehr oder weniger Karten. Diese stellen Streiks, Petitionen, Märsche und Ähnliches dar. Der Verlierer dieses Duells büsst an Einfluss im Land ein, der Gewinner erhält Siegpunkte. Haben die demokratischen Mächte in einer Nation einmal einen entscheidenden Sieg errungen, ist dieser nicht mehr rückgängig zu machen, d.h. der kommunistische Spieler kann diese Nation nicht mehr "zurückgewinnen".
Kurz nach Walesa spielt die Demokratin die "Hungary Scoring" Karte. Beide Parteien haben offenbar versucht, Einfluss in Budapest zu nehmen - niemand konnte allerdings die Stadt kontrollieren (6 zu 4, nötige Differenz wäre 3). Allerdings hat die Demokratin im Süden des Landes stark an Einfluss gewonnen - stark genug, um die kommunistische Regierung zu stürzen. Ein herber Schlag für den Spieler...
... Dieser kann allerdings zurückschlagen. Trotz starker demokratischer Kräfte in Polen geht der "Power Struggle" dort zu seinen Gunsten aus. Die Argumente der von der Kirche unterstützten Gewerkschaften konnten offenbar nicht alle Arbeiter und Bauern erreichen. Insbesondere fällt auf, dass sogar Walesas "Heimbasis" Danzig in kommunistischer Hand ist. Die spontanen und absolut uninszenierten kommunistischen "Freiheitsmärsche" haben somit die Lage in Polen vorerst beruhigt.
Der Punktestand bleibt sehr ausgeglichen, das Jahr ist noch lang...
Die Ereignisse in China werfen ihre Schatten auch nach Europa. Momentan reagiert die Welt zu Gunsten der demokratischen Bewegung, was der Spielerin einige Vorteile in Europa bringt. Eine chinesische Stellungnahme sollte besser nicht mehr viel länger auf sich warten lassen....
Mitte 1989: Unruhen in Bulgarien. Die demokratischen Kräfte sind dort stark. Sehr stark. Trotz substantieller Erfolge durch Streiks und Protestmärsche und eines knappen Siegs auf der Strasse, verhindern innere Zwistigkeiten aber den letzten Erfolg - den Sturz des kommunistischen Regimes. Letzteres bleibt in Bulgarien an der Macht. Noch...
Als Illustration noch einige weitere mögliche Ereignisse aus dem Spiel:
"Gorbi" ist ein neutrales Ereignis. Kann der Demokrat von seiner neuen und bisher ungewohnten Offenheit profitieren? Oder führt sie dazu, dass die Bevölkerung diesem neuen starken Mann im Politbüro als Vorreiter eines umgestalteten kommunistischen Regimes noch einmal eine Chance geben wird?
Die Stasi wird auch im Spiel ihrem Ruf gerecht: Der demokratische Spieler muss die Karte, die er als nächstes spielen wird, dem Kommunisten vor dessen Spielzug zeigen.
Die Apparatschiks festigen den kommunistischen Einfluss.
An diesen beiden Karten hatte die Demokratin nicht wirklich Freude...
"Wir sind das Volk" - wer um 1989 eine Nachrichtensendung sah, wird an diesem Ausspruch kaum vorbei gekommen sein.
Am Herrn der "New Years Eve Party" leider auch nicht...
Nach etwas mehr als 3 Stunden (inklusive Regelerklärung) haben wir das
Spiel vorzeitig beendet. Wir haben einen guten Eindruck zur Mechanik
erhalten, rechnen mit ca. 5 Stunden für ein ganzes Spiel (weniger, je
besser man mal die Karten kennt), haben uns aber in den 3 Stunden auch
nicht einmal gelangweilt und werden das wohl auch in 5 Stunden nicht.
1989 ist ein würdiger Nachfolger von "Twilight Struggle". Wir warten auf den nächsten verregneten Sonntag, dann ziehen wir die Sache von Anfang bis Ende durch...